Ernest Borneman zum 100. –Brösel

1. GrünRausch–‚Drogen-Legalisierung‘?

Selten bekam ich soviel positive Reaktionen auf einen eigenen Text wie auf den Legalisierungs–Brösel letzthin. Herzlichen Dank!

Mehr Fakten zur aktuellen Lage in Colorado & anderen US-Staaten findet sich in der Mai-Ausgabe von brandeins.

Patrick Witte: POT INC. –In den USA entsteht eine legale Marijuana-Industrie. Einblicke in eine neue Branche.

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2. Sasha Shulgin … gone …

Gerne erinnere ich mich an wiederholte Begegnungen mit Ann & Sasha, den Besuch der Beiden in der Alten Schmiede …

Sasha Shulgin, Patenonkel des MDMA, war u.a. mit seiner Frau Ann Autor der Klassiker PIHKAL sowie TIHKAL, beide inzwischen digital lesbar:

• Alexander Shulgin, Ann Shulgin: PIHKAL – A Chemical Love Story. Transform Press, Berkeley 1991, ISBN 0-9630096-0-5. (online)
• Alexander Shulgin, Ann Shulgin: TIHKAL, the Continuation. Transform Press, Berkeley 1997, ISBN 0-9630096-9-9. (online)

http://www.nytimes.com/2014/06/08/us/alexander-shulgin-psychedelia-researcher-dies-at-88.html?_r=1

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3. Tim Leary Folsom Prison, 1973

Tims Botschaft ‚Deal for Real‘ – auf deutsch in den 60ern von der Berliner Zeitschrift LOVE (Danke Frank & Ronald!) veröffentlicht, war eines der moralischen Standbeine meiner Dealerzeit. Tim mußte dafür einen stolzen Preis zahlen:

https://www.youtube.com/watch?v=5prNB4Ke3Qk

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4. Der Rote Turm im Dornröschenschlaf?

• Mein folgender Leserbrief wurde von den Weinheimer Nachrichten am 22. Mai abgedruckt, bis auf das PS.

Da les ich (am 15.5.) in den WN, daß der Rote Turm zu Weinheim von 1848 bis 2013 einen Dornröschenschlaf * hielt. Und: „Auch ein Buch zum Thema gibt es.“, ohne den Titel desselben zu nennen.

Als ich vor 24 Jahren das Buch ‚Der Rote Turm zu Weinheim‘ veröffentlichte schrieben Sie, die Lektüre mache „Spaß an der Heimatgeschichte“. 1991 übernahm ich den Turm von der Künstlergruppe um Norika Nienstedt, die ihn 1979 von der Künstlergruppe Spirale vererbt bekam. Damals kommentierten die WN „Kunst gab Weinheimern ihren Turm zurück.“ Schon 1938 hatte ein Inspektor der Schutzpolizei gefordert: „Der Turm sollte ohnedies dem Publikum zugänglichgemacht werden.“ Er wurde dann von der Hitler Jugend genutzt. „Bedauerlich ist aber, daß er für die Allgemeinheit nicht zugänglich ist.“, heiß es schon 1913 in der örtlichen Presse…

In meiner aktiven Turmzeit, von 1991 bis 2003, machte ich ihn immer wieder der Öffentlichkeit zugänglich und diese Angebote wurden genutzt, auch von Schreibern und Künstlern, die jeweils mehrere Tage oder Wochen im Turm verbrachten und in ihm wirkten. In jenen Jahren ‚lebte‘ der Turm.

Als ‚Turmherr‘, schrieb ich im Turm etliche Bücher und veranstaltete dutzende von Ausstellungen und Events, wie z.B. der ersten TechnoParty in Weinheim. Immer wieder öffnete ich den Turm für Begehungen, vor allem für dutzende von Schulklassen, wiederholt auch Nachts für Fotografen etc.. Das dicke, große Turm-GästeBuch gibt Zeugnis davon, daß Tausende diese Begehung schätzten, so z.B. Campino & die Toten Hosen, Zen-Meister Baker-Roshi u.v.a.m..

Wir wollten damals auch in der Turmgeschichte graben, durften es aber nicht. Jetzt wird gegraben, aber ansonsten darf der Turm nicht mehr genutzt werden, da es in dem ehemaligen Kerker keinen Fluchtweg gibt – wurde mir 2004 mitgeteilt, worauf ich kündigte. (Mehr dazu in der 2004 erschienenen 50seitigen Broschüre ‚Der Turm rockt(e)!‘). Das ist sehr bedauerlich, denn ich gönne jedem Weinheimer den Ausblick auf dem vom aktiven Freundeskreis neu installierten Drehstuhl in der Spitze des Turmes: Ein traumhafter 360Grad-Blick auf Weinheim.

Ich freue mich auf das angekündigte nächste Buch über den Turm und hoffe, daß in diesem auch etwas über die oft traumhaften Jahre des ‚Dornröschenschlafes‘ nachzulesen sein wird.

* PS. Schon am 31. Juli 1991 hieß es in der RNZ: „RoterTurm aus dem Dornröschenschlaf geweckt“.

••• Tage später bracht der Briefträger einen handschriftlichen Brief, ohne Absender.
„Vielen Dank für Ihren Leserbrief vom 22.5.2015 in der Weinheimer Nachrichten Zeitung.
P.S. Leider möchte ich Anonym bleiben.“

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5. Indianer & Wir upDate

Buffy Sainte-Marie in conversation w/ Shad, studio q https://www.youtube.com/watch?v=TdqrPaWMgJY

From the Civil rights of the 60s, the AIM to „Idle no More“, about play, indigenous music, and the importance of realizing that even our adversaries are evolving, ripening.
… just beautiful!

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6. Dieser Tage wäre Ernest Borneman 100 Jahre alt geworden.

Einleitung zu dem Interview, daß ich zu seinem 75. für die taz mit ihm führte:

Für den Leser in mir ist das Buch ‚Ein lüderliches Leben‘ – Der Grüne Zweig 179 sicherlich eine der wichtigsten 5 (von über 350) Publikationen, die ich verlegt habe. Wie es dazu kam?

Ich besuchte und interviewte Ernest zu seinem 75. Geburtstag für die taz. Ich hatte gerade seine ‚Ur-Szene‘ gelesen und war völlig baff ob der Welten, die sich mir da auftaten. Als Nicht-Akademiker (Kochlehre statt Abitur) konnte ich zwar nicht allen Gedankengängen von Ernest folgen, aber für das, was ich verstand, war & bin ich ihm sehr dankbar*. Unser Treffen habe ich als sehr herzlich in Erinnerung, auch, weil ich wohl der einzige Medienvertreter war, der sich zu jenem Event bei ihm gemeldet hatte.
Mit Themen wie London & die englische Art, sowie Musik fanden wir schnell eine gemeinsame Basis. Darüber hinaus verband uns das Erleben von ‚Arbeit als Lust‘ wie unsere Neugier. Unvergessen der kurze Blick in sein Musikzimmer und sein Hinweis, daß er sich aus Zeitgründen nicht mehr leisten könne, Musik zu hören … heartbreaking.

Seine Anfrage ein paar Jahre später, ob ich die Festschrift zu seinem 80. Geurtstag verlegen möchte, traf mich völlig überraschend. Da gab es nur eine Antwort: JA! Irgendwann wurde jedoch klar, daß das Buch weit umfangreicher als geplant würde und ich mußte Ernest mitteilen, daß ich mir als Kleinverleger ein so umfangreiches Werk leider nicht leisten könne. Doch Ernest hatte eine Lösung…

Als er kurz darauf eine Zugreise in den Norden unternahm, verabredeten wir uns beim Stop seines Zuges im Frankfurter Hauptbahnhof. Am Bahnsteig übergab er mir Papiere, die mich befugten, bei meiner nächsten Londonfahrt sein dortiges Konto aufzulösen. Der Clou der Geschichte: die 5.000 DM waren der Rest vom Honorar, daß ihm vormals Orson Welles gezahlt hatte. Das heißt konkret: ‚Ein lüderliches Leben‘ wurde indirekt auch von Orson Welles mit finanziert.

Ich empfinde Arbeit als Lust
Ernest Borneman wird 75 Jahre alt – Ein Interview von Werner Pieper

Viermal wechseln Österreicher im Laufe ihres Lebens ihre Möbel, erzählt mir Ernest Borneman, als er mich vom Bahnhof abholt. Fernab der Tageshektik hat er 1970 mit seiner Frau Eva nach langer Suche in Oberösterreich jenes Haus gefunden, das groß genug war, seine riesige Bibliothek zu beherbergen. Die Möbel stammen teilweise noch aus den dreißiger Jahren, wo er sie gebraucht in der Emigration in London erstand. Das war nur eine der vielen Stationen seines abenteuerlichen Lebens, das dieser Tage 75 Jahre währt.

Am 12. April 1915 in Berlin geboren, war seine Jugend von Armut und Hunger geprägt. Während die Schickimickis die „goldenen Zwanziger“ feierten, wurde er Mitglied im Sozialisten Schülerbund. 1931 trat er als jüngstes Mitglied Wilhelm Reichs „Reichsverband für proletarische Sexualpolitik“ bei. Zwei Jahre später emigrierte er aus politischen und Gründen des Sprachverfalls nach London.

Er lebte in Kommunen, lernte seine Frau Eva kennen, übersetzte mit Brecht die Dreigroschenoper ins Englische, schrieb unter Decknamen Romane, lernte viele Gesinnungsgenossen aus Politik- und Filmkreisen kennen, arbeitete ab 1936 beim BBC-TV mit, wo 1940, wenige Wochen vor seiner Internierung, seine erste Sendung (Outlaw Ballads of Two Continents) lief. Er ging nach Kanada, drehte Dokumentarfilme über Eskimos und wurde Chef der fremdsprachigen Abteilung der größten Dokumentarfilmorganisation der Welt, dem „National Film Board of Canada“. Dort arbeitete er zusammen mit dem späteren Bonanza-Papa Lorne Green; kurz darauf vermittelte Orson Welles sein erstes Drehbuch an Carlo Ponti, der es mit Kirk Douglas und Silvana Mangano filmisch umsetzte.

Als Musiker (Baß) jammte er mit Oscar Peterson und Duke Ellington. Er arbeitete in Paris für die Unesco und schrieb für den englischen ‚Melody Maker‘ Jazz-Kolumnen, von denen sich Schmidt-Joos und J. E. Behrendt inspirieren ließen. 1960 kehrte er nach Deutschland zurück, um hier ein zweites TV (die Vorgängerorganisation des ZDF) aufzubauen. Seine aufregende Lebensgeschichte kann man (incl. Selbstanalyse) in dem Buch Die Ur-Szene. Das prägende Kindheitserlebnis und seine Folgen (Fischer-Taschenbuch 6711) nachlesen.

Heute ist Borneman in der Öffentlichkeit durch seine Illustriertenkolumnen als „Pornomann“ bekannt, Fachkreise schätzen ihn hingegen als Vorsitzenden mehrerer Gesellschaften für sozialwissenschaftliche Sexualforschung und als Autor vieler, teils mehrbändiger Werke wie Sex im Volksmund, Das Patriarchat u. a. m. Gegenwärtig überarbeitet er eine Neuausgabe seines umfangreichen Lexikons der Liebe und bereitet ein Buch über Sex im Alter und zwischen den Generationen vor. Seine Frau Eva starb nach 52 gemeinsamen Jahren 1988.

Eifersucht, so sagt, habe er sein Leben lang nicht gekannt. Erst jetzt, seit er eine neue Freundin hat, würde sie aufflackern. Erst jetzt auch unternimmt er nach einem arbeitsreichen Leben erste Urlaubsreisen.
Das Interview wurde in der traumhaften Bibliothek des Hauses geführt, in dem er heute allein lebt. Die Anschaffung der ca. 25.000 Bücher zu den Themen „Sexualität“, „Kinder“ und „Psychoanalyse“ sei auf Dauer kostengünstiger gewesen als das permanente Arbeiten in auswärtigen Bibliotheken. Seine ordentlichen Zettelkästen sind mit über einer Million Notizen gefüllt. Was aus ihnen werden wird, steht noch in den Sternen.

Den zweitgrößten Raum des Hauses, das Musikzimmer, betritt Borneman nur noch selten. Zu groß ist für ihn der Zauber der Musik, zu arg lenkt er ihn vom Arbeiten ab. Ihr Buch Die Ur-Szene schließt mit dem Gedanken vom „gegenwärtig sterbenden Kapitalismus“, der „Hoffnung der Einheit der Arbeiterpartei“ und von der „täglichen Angst vor dem Rückfall in die Barbarei“. Wie stehen Sie heute, fünfzehn Jahre später, dazu?

Ernest Borneman: Ich würde das heute wahrscheinlich etwas anders formulieren oder auch streichen, aber man sollte seine eigenen Denkfehler niemals verbergen. Die Ereignisse in den Ländern des real existierenden Sozialismus haben mich sehr erschüttert, tiefer eigentlich als die Probleme meines Privatlebens. Ich habe niemals den sogenannten real existierenden Sozialismus mit dem Sozialismus verwechselt. Trotzdem hänge ich noch mit einem Teil meines Herzens daran, denn es ist unmöglich, wenn man in der frühen Jugend in der KP gewesen ist, die Merkmale jener Zeit im eigenen Charakter, in der eigenen Charakterentwicklung jemals abzuschütteln. Deshalb empfinde ich die gegenwärtige Situation auch analog zu der des Molotow-Ribbentrop-Paktes. Das war für mich die tiefste Erschütterung meines Lebens. Alle, die wir im Untergrund gewesen, ins Exil gegangen sind – für die Partei, für den Sozialismus –, haben jenen Handschlag zwischen dem Faschismus und uns niemals ganz überwunden. Und jetzt ist es, als ob man die letzte Handvoll Erde auf den Sarg geworfen hätte. Ich brauche noch eine Weile, um mich davon zu erholen.

Heute liegen zusätzliche Probleme im real existierenden ökologischen Bereich. Davon findet man in der vor 15 Jahren geschriebenen Ur-Szene nichts.

Doch, für mich war es schon damals wichtig. Es waren die ersten eigenständigen Kritiken, die ich an Marx und Engels geübt habe. Ihr relativ geringes Verständnis für das, was die Industriegesellschaft – einerlei, wem die Produktionsmittel gehören – mit sich bringen würde. Man findet da einzelne Sätze, so bei Engels, aber im Großen und Ganzen ist das ein Block von – sagen wir – Vorausinformationen, der zur Verfügung gestanden hätte, denen aber wahrscheinlich Marx und Engels nicht die nötige Beachtung schenkten.

Nach 27 Jahren im Ausland kehrten Sie 1960 nach Deutschland zurück. War es ein Schock, wieder mit der deutschen Mentalität konfrontiert zu sein?

Ich bin damals von Adenauer nach Deutschland geholt worden, um die Vorgängerorganisation des ZDF als Produktions- und Programmchef aufzubauen, quasi als Intendant. Ich habe das getan, weil ich dachte, ich könnte so eine Art „linker Goebbels“ werden. In dieser Fernsehorganisation hatte ich zu meinem Erstaunen fast freie Hand. Der alte Adenauer, der das Bundesfernsehen aufbauen wollte, hat tatsächlich niemals auch nur mit einem Wort in diese Organisation eingegriffen. Das gab mir die Illusion, ich hätte komplett freie Hand.

Was ich vergessen hatte und als Marxist eigentlich nicht hätte übersehen dürfen, war die Macht des Kapitals. Immer wieder wurde das, was ich meinen, zum großen Teil aus dem Ausland zurückgeholten, Mitarbeitern aufbaute, gestoppt und sabotiert. Sabotage fiel mir dabei besonders auf. Die Leidenschaft des Deutschen, auch in der Nachkriegszeit, andere abzuschießen. Ich war der ‚Ausländer‘, der zwar Deutscher war, aber trotzdem abgeschossen werden sollte.

Wann immer zum Beispiel ich in die Kantine kam, fiel an einigen Tischen eisiges Schweigen. Ich wurde mit Blicken verfolgt, bis ich mich irgendwo hingesetzt hatte, und dann fing das Getuschel an. Also dieses Gefühl, in einer total feindlichen Umgebung zu sein, und zwar in einer Umgebung, die konspirativ handelte, das war eine Erfahrung, die steckt mir heute noch in den Knochen.

Es war sehr, sehr unangenehm, und es nahm Formen an, daß sich Mitarbeitet gegenseitig bei mir anschwärzten. „Herr Borneman, ich bin ja ihr Freund. Ich wollte Ihnen nur sagen, der Sowieso, der hat das Messer für Sie schon gewetzt!“ erzählte mir der eine, während der andere mich wenige Minuten später aufklärte: „Also, ich bin ja ihr Freund, aber der Sowieso, der eben mit Ihnen geredet hat, der will Sie beseitigen!“

Diese totale Unsicherheit, ob da auch nur ein einziger Mensch war, der jemals die Wahrheit sagte, also das hat mich – aus England kommend, wo ich mir angewöhnt hatte, daß Menschen größtenteils die Wahrheit sagen –, das war mir sehr fremd geworden. Die Tatsache, daß ich ja fast akzentfrei deutsch sprach, also in den Augen derjenigen doch irgendwie ein Deutscher war, andererseits vom 18. Lebensjahr an in der angelsächsischen Welt aufgewachsen war und deren Werte assimiliert hatte, ja fast ein Engländer geworden war, das war den anderen nicht klar. Mir war es jedoch sehr klar, daß ich in Deutschland mentalitätsmäßig ein völlig Fremder geworden war.

Trotzdem sind Sie aber im deutschsprachigen Raum geblieben und nicht nach England zurückgekehrt.

Das war eher Zufall als Absicht. Ich war also damals auf der Höhe der Fernsehleiter, auf Intendantenniveau. In der Welt gibt es nicht viele Intendantenstellen. Die einzige, die sich damals für mich anbot, war das irische Fernsehen. Ich habe mich damals in Dublin vorgestellt und wurde nach meiner Religion gefragt. Ich sagte, ich hätte keine. Das kostete mich diesen Job, für den ich eigentlich recht gut geeignet war. Ich liebe Irland. Die Antwort hätte übrigens nicht lauten müssen: „Ich bin Katholik.“ Der, der die Stelle bekam, war interessanterweise Jude. Ich bin doch ganz froh, diese Stelle nicht bekommen zu haben. Meine Frau und ich haben daraufhin die Folgerung gezogen, diese ganze Talmi-Welt des Films, Fernsehens, Showbusineß, in der wir durch Zufall gelandet waren, zu verlassen. Dann haben wir eben nach langem Suchen ein Haus gefunden, in dem wir all unsere Bücher unterbringen konnten.

Hier haben wir angefangen, uns vom Schreiben zu ernähren. Das war mir persönlich sehr viel angenehmer, als die Druckmäusermentalität, die man sich beim Fernsehen angewöhnen mußte, gleich auf welcher Ebene man stand (selbst die Intendanten buckelten); diese Mentalität, die früher oder später jeden korrupt macht, die war mir nicht angenehm. Ich war froh, als ich raus war.

Was sagen Sie zum Fernsehen heute?

Es ist ein völlig anderes Medium geworden. Ich war ja immer ein leidenschaftlicher Unterstützer des Live-Fernsehens. Ich wollte niemals elektronisch ausgestrahltes Kino. Ich wollte etwas völlig anderes, das Leichte, das Improvisierte, Schnelle. Etwas, an dem man nicht mit der deutschen Perfektionsmentalität herummontieren konnte, sondern das sofort ausgestrahlt werden sollte. Auch Fernsehstücke gibt es ja heute überhaupt keine mehr.

Das sind rein technische Aspekte des Fernsehens. Die Technik des kleinen Bildschirms ist ja logisch eine ganz andere als die des großen, aber die Verwirrung zwischen den beiden Medien ist heute größer geworden denn je. Daß die Landschaft des Fernsehens das menschliche Gesicht ist und nicht die wilde Prärie, das wissen heute noch sehr viele, aber sie praktizieren es nicht mehr. Also die Arten des Fernsehens, in denen die Bewegungen in der Achse des Auges stattfinden, von vorn nach hinten und von hinten nach vorn statt von links nach rechts – diese Technik war mir wichtig.

Das ist aber nebensächlich, denn das Wichtigste ist, daß das Fernsehen heute völlig zum Instrument der Machthaber geworden ist und daß diejenigen, die es wagen, ein wenig Kritik zu üben, ja immer weniger werden. Oder sie sterben, weil sie den Kummer und die Frustration nicht ertragen können. Jedenfalls ist es ein recht langweiliges Fernsehen geworden, finde ich.

Sie bezeichnen sich auch heute noch als Marxist. Welche Bedeutung hat das für Sie?

Also ich habe sehr früh und bei sehr guten Lehrern dialektisch denken gelernt. Wer das einmal gelernt hat, vergißt es nicht mehr. Ich will einmal Beispiele nennen. Koestler, auch in Zeiten seiner bittersten Enttäuschung, in der er nur noch Haß auf den Marxismus gesprüht hat, war Marxist in seinen Denkformen. Jeder, der seine späteren Bücher liest, merkt, daß da ein gut marxistisch geschulter dialektischer Denker arbeitet.

Ich habe immer die marxistische Kritik an der Gesellschaft verläßlich gefunden. Ich finde sie heute noch verläßlich. Ich habe aber schon damals nach dem Molotow-Ribbentrop-Pakt, als meine Überzeugung zu wanken begann, angefangen, über die Sowjetunion in marxistischen Begriffen nachzudenken. Mittlerweile haben das sehr viele getan. Die gegenwärtige Kritik innerhalb der DDR besteht ja zum Teil aus marxistischer Kritik am real existierenden Sozialismus. Sehr berechtigt. Heute bin ich kein Anhänger der Planwirtschaft mehr. Ich glaube, daß wir in der ungeheuer komplizierten Gesellschaft von heute nur noch in dezentralisierter Weise auskommen. Ich bin in den Augen anderer geradezu reaktionär geworden.

Wir leben nun einmal in einer bürgerlichen Gesellschaft. Da sehe ich keine Gründe, wieso ich mir die Vorteile dieser bürgerlichen Gesellschaft nicht aneignen sollte, beispielsweise mein Kapital zu verzinsen. In diesem Sinne habe ich auch nie kapiert, warum die Angriffe gegen die taz ausgerechnet von rechts geführt worden waren, weil sie sich der sämtlichen Tricks der bürgerlichen Gesellschaft bedient hat. Natürlich muß man das. Es gibt keine andere Möglichkeit zu überleben, und es gibt auch keine andere Möglichkeit, die Opposition zu finanzieren. Die einzige Alternative wäre, wie bei der RAF, Bankraub. Bankraub erscheint mir noch weniger überzeugend. Was also die heutige Überlebenspolitik anbelangt, vermag ich nicht mehr an eine zentral organisierte Gesellschaft von morgen zu glauben.

Wenn es jemals eine klassenlose Gesellschaft geben wird, dann wird sie nach meiner heutigen Meinung anders aussehen und auf einem anderen Wege erreicht werden als auf dem über die Diktatur des Proletariats. Die hat sich nach meinen Maßstäben endgültig als miserabel erwiesen. Den Weg, so glaube ich, können wir nicht ein zweites Mal gehen.

„Den Wert eines Menschen erkennt man nicht an den gesellschaftlichen Positionen, die er in der bürgerlichen Welt verweigert hat“, so ein Zitat von Ihnen. Welche Positionen haben Sie verweigert?

Das ist mir ein sehr wichtiger Gesichtspunkt. Ich habe all die Positionen verweigert, die mir Geld auf Kosten der Angleichung an die herrschenden Gesellschaftswerte gebracht hätten. Ich habe auch den Beruf eines Fernsehintendanten aufgeben, sobald ich merkte, daß ich mich zu sehr anpassen muß. Solange ich damals eine erstaunliche Freiheit hatte, interessierte es mich wahnsinnig. Aber jedesmal, wenn man mir ein Zuckerl, wie die Österreicher sagen, hingehalten hat und mir gesagt wurde: „Mach mal das, mach mal jenes“, wenn es also um die sogenannten Ehrungen ging …

Wie wird man zum Beispiel in Österreich Hofrat? Das wird man nicht, indem man eine bestimmte Leistung erbringt, sondern indem man lange genug eine Stellung ausübt, vorzugsweise im Bereich des Beamtentums angesiedelte Tätigkeiten, und nicht aufmuckt.

Jedesmal, wenn man mir die Möglichkeit gegeben hat, recht viel Geld zu verdienen auf Kosten der Aufgabe eigener Überzeugungen, habe ich „nein“ gesagt. Das ist sehr oft im Leben geschehen, nicht nur im Fernsehen, auch im universitären Bereich. Ich habe ja lange auch im akademischen Bereich gearbeitet, im Bereich der Vereinigten Nationen. Immer wieder gab es solche Stellungen, für die man, nachdem man ja so arm gewesen ist wie ich, eigentlich dankbar hätte sein müssen …

Sämtliche UN-Angestellten verdienen ja ihr Geld steuerfrei und werden in Dollar ausbezahlt. Die Unesco war ein furchtbarer Laden, in dem Leute mit hohen Gehältern zu totaler Untätigkeit verdammt waren. Sobald man irgendetwas zu tun versuchte, was die Welt wirklich veränderte, stieß man auf ein eisernes „Nein!“. Ich könnte viele Fälle aus meinem Leben nennen, in denen die Versuchung, etwas zu machen, sehr groß war – aber ich habe sie immer wieder abgelehnt.

Sie sind Sexualforscher. Sie sind gegen die Monogamie und für die Abschaffung der Kleinfamilie. Sehen Sie praktische Ansätze einer Überwindung derselben?

Gegenwärtig sehr wenige, weil wir uns ja offensichtlich wieder mal in einer Trendwende nach rechts befinden. Zwei Dinge erscheinen mir trotzdem sehr interessant: erstens, daß das Tabu des vorehelichen Geschlechtsverkehrs so total verschwunden ist, daß man sich kaum noch vorstellen kann, daß es so etwas je gegeben hat. Das ist gut. Durch Zusammenleben kann man lernen. Sexualität ist ja nicht etwas, das nur in den Geschlechtsteilen stattfindet, sondern im gesamten Zusammenleben, von morgens bis in die Nacht hinein. Da lernt man sehr schnell, wer zu wem paßt. Und das muß man lernen.

Meine heutige Erfahrung und Überzeugung ist, daß Eheberater, Sexual- und Familienberater völlig hilflos sind und keinem anderen Menschen nützen als sich selber. Sie schaden sogar den Menschen, die sie beraten, weil sie ihnen die Illusion geben, das Verhältnis könne verbessert werden. Es kann aber nur dann verbessert werden, wenn die Partnerwahl von Anfang an richtig war. Das wichtigste in der sexuellen Beratung scheint mir zu sein: Wie finde ich und wie erkenne ich den für mich subjektiv geeigneten Partner?

Die Kommunen 1 und 2 in Berlin waren wichtige Labors, um zu ergründen, wie weit kann man in einer bestimmten Richtung gehen. Ich müßte lügen, wenn ich sagen würde: „Ich kenne den Weg.“ Ich kenne keinen Weg. Oder: Ich kenne viele Wege. Aber man muß sie probieren. Die Hauptsache ist: Man darf sich nicht in die traditionellen Formen des Geschlechtslebens automatisch wieder hineinlocken lassen. Man muß gezielt versuchen, nicht nur sich selbst zu befriedigen, sondern Wege dabei zu gehen, die vorher nicht gegangen worden sind. Diese Versuche der 68er-Generation sind ja auch fast wieder ausgestorben.

Die sexuelle Perspektive, die ich sehe, ist eher bedrückend, negativ und relativ hoffnungslos – im Augenblick.

Sie haben ein sehr erfülltes Leben geführt. Sie haben an vielen verschiedenen Plätzen unterschiedliche Tätigkeiten ausgeführt. Wann waren Sie dem Gefühl des Glücks nah?

Eigentlich immer nur temporär. Mein ganzes Leben ist hin und her gependelt zwischen tiefen Depressionen und absoluter Euphorie. Ich kann mich nicht erinnern, zu irgendeiner Zeit meines Lebens über mehrere Tage hinweg total glücklich oder total unglücklich gewesen zu sein.

Es ist zum Beispiel befriedigend, ein wissenschaftliches Buch zu schreiben als ein Fernsehstück. Der einfache Grund: Sowie das Stück geschrieben ist, fangen die anderen an, es zu „bearbeiten“ oder es in irgendeiner Weise auseinanderzunehmen oder Bedingungen zu stellen.

Das Befriedigende ist einfach die Arbeit als solche. Ich empfinde Arbeit als Lust. Eine Arbeit zu leisten, von der man weiß, sie ist gut, sie nützt den anderen, aber auch mit einem Wesen, in meinem Falle mit einer Frau zusammen zu sein, bei der man das Gefühl hat, man beutet sie nicht aus. Ich kann also niemals mit einer Frau zusammen schlafen, die nicht mit mir schlafen will. Deshalb ist mir auch Vergewaltigung bis auf den heutigen Tag völlig unverständlich.

Für mich besteht die sexuelle Befriedigung darin, daß man jemand anderen befriedigt. Das ist mir wichtig. Ich möchte nicht ohne meine Sexualität leben, und ich kann die Türken sehr gut verstehen, die sagen: „Wenn der Mann impotent wird, soll sein Leben gefälligst aufhören.“ Ich bin jetzt an der Grenze dessen und werde dementsprechend handeln.

Quelle: TAZ 12. 4. 1990

PS. I
Natürlich freue ich mich über jede Bestellung für das Buch und jeden Hinweis, wo ich es noch anbieten sollte … Hier der Link: http://www.gruenekraft.com/luederliches-leben-p-44841.html

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7. Der Ziegelbrenner jetzt mit eigenem Online-Shop!

Ja, nachdem der – auch technisch veraltete – Anares-Shop bereits zu Beginn letzten Jahres stillgelegt wurde, hat nun Der Ziegelbrenner einen neuen, aufgeräumten und übersichtlichen Online-Shop, vor allem für anarchistische Literatur!

Zum einen ist dieser Schritt notwendig geworden, da der Abverkauf alleine über die einschlägigen, provisionspflichtigen Antiquariats-Plattformen zu gering in Relation zum immer noch sehr umfassenden Buchbestand ist. Zum anderen ist dieser Schritt auch ein Signal vor dem Hintergrund der Monopolisierung des Marktes in den Händen weniger großer Anbieter, allen voran von Amazon.

Lasst euch also zum Stöbern einladen und schaut mal rein in den neuen Shop. Denn Der Ziegelbrenner hat die Bücher, die der örtliche Buchhandel nicht hat. Auch im Online-Shop gibt es natürlich weiterhin 50% Rabatt auf alle antiquarischen Artikel!
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Der Ziegelbrenner (Inh.: Gerald Grüneklee)
Alter Dorfweg 15, 28259 Bremen

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8. Fronleichnam

Ein seltsamer, eigentlich katholischer Feiertag, an dem nun niemand mehr arbeiten darf – und kaum jemand weiß, worum es bei diesem ‚Fest‘ eigentlich geht. Als ev. Kind verwirrte mich schon, daß alle katholischen Dorfkinder tags zuvor ungezählte Blumen köpfen mußten, damit der Pfarrer tags drauf über die Blühten gehen konnte.

Mr. Wiki hilft weiter:

„Das Fest der leiblichen Gegenwart Christi in der Eucharistie wurde erstmals 1246 im Bistum Lüttich gefeiert und 1264 von Papst Urban IV. durch die Bulle Transiturus de hoc mundo zum Fest der Gesamtkirche erhoben. Unter anderem schrieb Urban IV.: „Wir haben es daher, um den wahren Glauben zu stärken und zu erhöhen, für recht und billig gehalten, zu verordnen, dass außer dem täglichen Andenken, das die Kirche diesem heiligen Sakrament bezeigt, alle Jahre auf einen gewissen Tag noch ein besonderes Fest, nämlich auf den fünften Wochentag nach der Pfingstoktav, gefeiert werde, an welchem Tag das fromme Volk sich beeifern wird, in großer Menge in unsere Kirchen zu eilen, wo von den Geistlichen und Laien voll heiliger Freude Lobgesänge erschallen“.

Die Anregung zu der Schaffung dieses Festes geht auf eine Vision der heiligen Juliana von Lüttich, einer Augustinerchorfrau, im Jahre 1209 zurück. Diese berichtete, sie habe in einer Vision den Mond gesehen, der an einer Stelle verdunkelt war. Christus habe ihr erklärt, dass der Mond das Kirchenjahr bedeute, der dunkle Fleck das Fehlen eines Festes des Altarssakraments. Das mit der Bulle Transiturus de hoc mundo in der lateinischen Kirche eingeführte Fest war das erste, das von einem Papst in den liturgischen Kalender der Gesamtkirche aufgenommen wurde.

Das vierte Laterankonzil hatte 1215 die Wandlung der eucharistischen Gestalten mit der Transsubstantiationslehre präzisiert und zum Dogma erhoben. Die katholische Kirche lehrt, dass in der Heiligen Messe die eucharistischen Gestalten durch die Wandlung wahrhaft zum Leib und Blut Christi werden und Christus darin gegenwärtig ist und bleibt.

Die erste Sakramentsprozession in Bayern fand 1273 in Benediktbeuern statt, in Köln wurde das Fest erstmals 1279 mit einer Prozession begangen. Ihren Höhepunkt an festlicher Gestaltung erreichte die Fronleichnamsprozession im 17. und 18. Jahrhundert.

Die Reformation stand dem Fronleichnamsfest ablehnend gegenüber, da es sich biblisch nicht begründen lasse. Martin Luther:

„Ich bin keinem Fest mehr feind … als diesem. Denn es ist das allerschändlichste Fest. An keinem Fest wird Gott und sein Christus mehr gelästert, denn an diesem Tage und sonderlich mit der Prozession. Denn da tut man alle Schmach dem heiligen Sakrament, dass man’s nur zum Schauspiel umträgt und eitel Abgötterei damit treibet. Es streitet mit seiner Schmink und erdicht’en Heiligkeit wider Christi Ordnung und Einsetzung. Denn er es nicht befohlen hat also umherumtragen. Darum hütet euch vor solchem Gottesdienst!“

Das Konzil von Trient (1545–1563) bestätigte das Fronleichnamsfest und wertete es gleichsam zu einer gegenreformatorischen Demonstration auf. Es erklärte:

„Außerdem erklärt der heilige Kirchenrat, es sei eine vorzügliche fromme und erbauliche Sitte …, daß alle Jahr dieses erhabene und ehrwürdige Sakrament … durch die Straßen und öffentlichen Plätze herumgetragen werde.“ (Beckenbauer)

Als Reaktion darauf wurde es in manchen gemischt-konfessionellen Gebieten (etwa der Schweiz) üblich, dass die protestantischen Bauern als Provokation den Mist gerade an Fronleichnam auf die Felder ausbrachten; die katholischen Bauern antworteten dann am Karfreitag mit gleicher Münze.

Soo ein Mist!

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